Der digitale Spiegel: Wie die Industrie 4.0 das Supply Chain Management verändert

Isaac Maw |

“Es ist wie ein digitaler Spiegel. Es ist ein digitaler Zwilling eines Produkts oder Assets, ein Spiegel des Tatsächlichen. Dadurch wird es uns möglich, Prozesse dynamisch anzupassen. Unsere Vision ist es, mit dieser Umgebung einen digitalen Spiegel der realen Welt zu erschaffen.” -Hans Thalbauer, Senior VP, Supply Chain und IoT, SAP

Die vierte industrielle Revolution macht ihrem Namen alle Ehre. Die digitale Transformation wirkt sich auf nahezu alle Branchen aus, ist aber besonders nützlich in Anwendungen, bei denen sie wertvolle Daten ans Tageslicht befördert, die ohne sie nicht zugänglich wären. Ein Beispiel ist die Ausstattung von Werkzeugmaschinen mit über das Internet vernetzten Sensoren, durch die Produktionsdaten in der Cloud analysiert werden können. Im Gesundheitswesen wird das IoT zur Fernüberwachung eingesetzt, indem vernetzte Geräte wie z.B. Wearables verwendet werden, um diverse Arztbesuche und Untersuchungen überflüssig zu machen und damit Zeit und Kosten zu sparen.

Wie in diesen Beispielen veranschaulicht, gibt es im Supply Chain Management eine Menge versteckter und unzugänglicher Daten, was im IoT-Bereich wiederum eine Vielzahl von Chancen hinsichtlich schlankerer und komplexerer Lieferketten bedeutet.

Hans Thalbauer, Senior VP für Supply Chain und IoT bei SAP

Supply Chains sind die Spezialität des globalen Branchensoftware-Riesen SAP. Wir haben Hans Thalbauer, Senior VP für Supply Chain und IoT bei SAP, befragt, um mehr darüber zu erfahren, wie IoT die industriellen Lieferketten verändern wird.

“Digitale Lieferketten sind alle Lösungen und Geschäftsprozesse, die für den Chief Operating Officer relevant sind”, erklärte uns Hans Thalbauer, Senior VP für Supply Chain und IoT bei SAP. “Wir definieren den Begriff insbesondere über die Herausforderung, langjährige Erfahrungen in Finanzplanung mit Logistik- und Transportmanagementthemen zu verknüpfen, aber dabei gleichzeitig die Bereiche Engineering, F&E, Fertigung und Asset Management einzubeziehen. In diesem Zusammenhang sind Industrie 4.0 und das industrielle Internet der Dinge extrem wichtig.”

Track-&-Trace von Assets auf einem ganz neuen Level

In der Vergangenheit wurde die Bestandsverfolgung mit Hilfe von Barcodes und Kontrollnummern organisiert. Dieser Ansatz liefert eine Reihe gesonderter Datenpunkte, während sich das Gut durch die Lieferkette bewegt. Er kann jedoch zu Problemen führen, wenn etwas schief geht. Wir alle haben das einfachste Beispiel für einen solchen Fall, die Online-Bestellung eines Pakets, schon einmal am eigenen Leib erfahren. Die Trackingnummer zeigt an, dass das Paket sich “in der Zustellung” befindet, aber es gibt keine Informationen darüber, wo es sich genau befindet oder wann es ankommen wird. In einem Privathaushalt ist das nur eine kleine Unannehmlichkeit. Für eine Fabrik, die eine Lieferung von Produktionskomponenten erwartet, kann dies zu Verwirrung, Vertragsstrafen und Ausfallzeiten führen.

Vernetzte Sensoren an Assets und den Fahrzeugen, die sie transportieren, können dieses Problem lösen, indem sie On-Demand-Standort- und Zeitdaten bereitstellen. Anstatt den letzten bekannten Check-in eines Assets in Erfahrung zu bringen, könnten die Assets auf ihren exakten aktuellen Standort rückverfolgbar sein, was dem jeweiligen Mitarbeiterteam ermöglichen würde, bessere Entscheidungen zu treffen. Während GPS-Tracking keineswegs eine neue Technologie ist, macht die Entwicklung kostengünstigerer und komplexitätsrediuzierter Geräte und Systeme sie für immer kleinere Unternehmen zu einer realen Option.

Darüber hinaus trägt auch die stetige Entwicklung neuer Managementsoftware zu dieser erhöhten Transparenz bei.

Rückverfolgbarkeit ist ein Kernanliegen von Identify 3D, das ein digitales Vertriebssystem für die Verwaltung von 3D-CAD-Dateien, wie beispielsweise Komponentendesigns, anbietet.

Joe Inkenbrandt, Co-Founder und CEO, Identify 3D

“Jedes Mal, wenn sich Ihre Datei in der Lieferkette bewegt, z.B. vom Ersteller zum Drucker, verfolgen wir, was mit dieser Datei passiert, so dass Sie für jedes Teil, das hergestellt wird, eine authentische Produkthistorie zur Verfügung haben. Sie können es so auf den ursprünglichen Design oder Datensatz zurückführen, der für den Produktionsprozess verwendet wurde”, erklärte Joe Inkenbrandt, CEO und Mitbegründer von Identify3D.

Laut Thalbauer ist eine bessere Asset-Tracking-Technologie Teil einer größeren Vision für die mit dem IoT vernetzte Lieferkette.

“Wir müssen eine allgemeine Vernetzung nicht nur mit Objekten, sondern auch mit Geschäftspartnern herstellen. Und wir müssen in der Lage sein, uns nicht nur mit dem Lieferanten, sondern auch mit dem Lieferanten des Lieferanten zu vernetzen. So werden wir letztlich den den ultimativen Traum des Supply Chain Managements der letzten Jahrzehnte realisieren. Und warum ist das wichtig? Es geht um Risikominimierung”, erklärte Thalbauer.

“Nehmen wir zum Beispiel den jüngsten Hurrikan in North Carolina. In der Region befinden sich einige Automobilwerke. Vielleicht haben einige von ihnen ihre Werke bereits heruntergefahren – das hat Auswirkungen auf ihre Lieferanten. In Japan, und jetzt gerade in Hongkong, ist ein Taifun im Anmarsch. Dies könnte weitere Auswirkungen auf einige der Werke und ihre Lieferanten haben. Wenn ich diese Informationen habe und einkalkulieren kann, dass der Lieferant meines Lieferanten ein Werk in Japan hat und die Anlage aufgrund eines Erdbebens für die nächsten zwei Wochen außer Betrieb sein wird, kann ich die Entscheidung treffen, Teile früher zu bestellen oder zu einem späteren Zeitpunkt bei anderen Lieferanten weltweit.”

“Diese Art von Tiefeneinblick ist also höchst wichtig. Sie haben eine völlig transparente Geschäftsumgebung. Wenn Sie z.B. wissen wollen, woher eine Komponente eines Lieferanten stammt, können Sie die Information direkt abrufen. Oder die Information, welche abgeschlossenen Projekte eine bestimmte Komponente aus der Stückliste beinhalten bzw. welche Kundenaufträge davon betroffen sind – alles kein Problem.”

Flottenüberwachung und Just-in-Time-Produktion

Toyota leistete vor einigen Jahrzehnten Pionierarbeit bei der Entwicklung des Konzepts der Just-in-Time-Produktion, da es dem in Japan ansässigen Unternehmen an Geld, Platz und lokalen Lieferanten mangelte, die für die Aufrechterhaltung eines großen Teilebestands und die Lieferung von Produkten in großen Mengen erforderlich sind. Stattdessen basiert das Toyota-Produktionssystem auf einem schlanken Ansatz für die Lagerhaltung, was in der Produktionsrealität zu einer schnelleren Reaktionszeit der Lieferanten und geringeren Investitionen in Bestände führt.

Der Grundpfeiler von JIT ist jedoch, dass Komponenten genau dann ankommen müssen, wenn sie gebraucht werden. Bei einer Automobil-Montagelinie installiert die Scheibenwischerstation den nächsten Behälter mit Wischerblättern nicht, bevor der aktuelle Behälter fast leer ist. Wenn sich die Lieferung verzögert, kann es zu Qualitätsproblemen oder sogar zu einer temporären Stilllegung der Montagelinie kommen. Wenn die Lieferung verfrüht erfolgt, verursacht sie anderweitige Probleme, da das Werk nicht darauf vorbereitet ist, sie in Empfang zu nehmen.

Um diesen engen Zeitplan einzuhalten, haben die Erstausrüster mit der Aufstellung strenger Liefertermine reagiert. Für den Erstausrüster ist damit sichergestellt, dass Komponenten pünktlich eintreffen. Dies übt jedoch hohen Druck auf die Lieferanten aus, die pünktlich liefern oder andernfalls mit hohen Strafen rechnen müssen. In einigen Fällen sind die Lieferanten verpflichtet, für Ausfallzeiten zu bezahlen, die durch eine verspätete Lieferung verursacht werden. Solch massive Strafen führen zu Phänomenen wie dem Expressversand, bei dem Lieferanten eine Extra-Prämie zahlen, um Komponenten rechtzeitig an den Erstausrüster zu liefern. Sie führen außerdem dazu, dass Lieferanten ein Inventar mit entsprechenden Komponenten führen, um sicherzustellen, dass Stillstände keine Lieferungen verzögern und somit Strafen vermieden werden.

Kurz gesagt, Just-in-Time-Produktion schafft Effizienz auf Seiten der Erstausrüster, jedoch Ineffizienzen auf Seiten von Lieferanten. Diese Mehrkosten wiederum werden auf die Preise der gelieferten Komponenten aufgeschlagen.

Theoretisch würde die effizientestmögliche Lieferkette die Just-in-Time-Produktion über den gesamten Produktionszyklus hinweg nutzen, vom Rohstoff bis zum Endkunden. Mit IoT wird dies nun möglich.

“Die Zukunft wird noch spannender, denn es wird immer mehr maschinelle Lernfähigkeiten geben, die zielgenaue Prognosen ermöglichen”, erklärte Thalbauer. “Anstatt also nur das zu wissen und sehen zu können, was aktuell Sache ist, und zwar im jeweiligen Moment, und uns dynamisch daran anzupassen, können wir nun darüber hinaus beginnen, immer besser vorherzusagen, was eventuell passieren könnte. Dies ist natürlich eine ganz andere Philosophie, die uns zu der so genannten berührungslosen Lieferkette führt: Eine hochgradig automatisierte Umgebung.”

Thalbauer beschrieb uns einen dreiteiligen Ansatz für die Digitalisierung des Supply Chain Managements durch SAP.

“Zuallererst bieten wir den entsprechenden Einblick: die relevanten KPIs, einschließlich bspw. Gesamtanlageneffektivität in der Produktion, Performance Management und Strategie. Der zweite Aspekt, den wir einbeziehen, ist die Konnektivität: die digitale Vernetzung sowohl mit den Geschäftspartnern als auch mit den Dingen. Wir pflegen zu sagen: “Um die reale Welt zu perfektionieren, müssen Sie sich digital vernetzen.” Des Weiteren verfügen wir über Erkenntnisse aus den Bereichen prädiktives Qualitätsmanagement, prädiktive Fertigung und prädiktive Instandhaltung. Der letzte Aspekt umfasst mobile Lösungen zur Ansprache der Benutzer, der Servicetechniker usw. Der Slogan, den wir immer häufiger verwenden, lautet: ‘Die digitale Lieferkette – Virtuelle Vernetzung schafft reale Perfektion.’”

Die Demokratisierung dieser Tools, wie z.B. GPS-Versandüberwachung und prädiktive Analytik, kann nachgelagerten Lieferanten Zeit und Geld sparen, aber die Transparenz ist ein zweischneidiges Schwert. Ein Lieferant kann aufgefordert werden, einem Kunden Zugang zu Produktionsdaten zu gewähren, aber diese Daten könnten einen gewissen Spielraum im System des Lieferanten offenbaren, mit dem er sicherstellt, dass er seine Termine einhalten kann. Wenn ein Kunde diesen Spielraum bemerkt und ihn für überflüssig hält, kann dies zu Problemen in der Geschäftsbeziehung führen.

Die Industrie 4.0-Technologie wird also den Erstausrüstern zugute kommen. Aber wird es auch denjenigen zugute kommen, die in der Lieferkette weiter unten stehen?

“Wenn ich der Erstausrüster bin und glaube, dass die Daten, die ich mit meinen Auftragnehmern und Herstellern teile, kritisch sind, dann werde ich die Anforderung stellen, dass jemand, der mit mir Geschäfte machen will, eine Art System haben muss, das es ihm ermöglicht, die Daten bis zum Produktionszeitpunkt zu überwachen”, erklärte Inkenbrandt, als er mit uns über die digitale Sicherheits- und Authentifizierungssoftware von Identify3D sprach. “Der Vorteil für den Auftragnehmer, der die Fertigung übernimmt, ist die Fähigkeit, die Anforderungen dieser größeren Kunden zu erfüllen, wenn es darum geht, Datensätze zu schützen, die das geistige Eigentum dieser Kunden enthalten.”

Blockchain

Die Blockchain-Technologie befindet sich in einem sehr frühen Stadium der Etablierung. Während populäre Anwendungen wie Kryptowährungen der Bekanntheit der Technologie zugute kommen, gibt es bislang nur wenige wirklich nutzenorientierte Anwendungen.

Eine der vielversprechendsten Anwendungsbereiche für Blockchain ist das Supply Chain Management. Da die Technologie eine offene und sichere Aufzeichnung von Transaktionen ermöglicht, kann Blockchain verschiedene Prozesse in Netzwerken sichtbarer und interoperabler machen. SAP nutzt die Blockchain in SAP Leonardo, der Cloud-Plattform des Unternehmens. “Die IT-Technologie kann sich mit Dingen verbinden – mit “Augmented Machines”, mit Produkten, mit allem. Wir haben dann ein umfassendes Datenmanagement in dieser Cloud-Plattform zur Verfügung und fügen maschinelles Lernen hinzu, um die Muster hinter den Daten zu bestimmen und Prognosen zu stellen – die ganze Sache auf eine intelligente Ebene zu heben. Wir fügen dann die Blockchain hinzu, um Prozesse netzwerkübergreifend zu automatisieren”, erklärte Thalbauer.

Als eine Art Anbieter von digitalen Sicherheitsdienstleistungen ist Identify 3D auch ein aktiver Nutzer der Blockchain-Technologie. “Wir sind kein Blockchain-Unternehmen, aber wir sind blockchainfähig. Die meisten unserer Implementierungen verwenden eine zentralisierte Datenbank, da bislang nicht viele Akteure beteiligt sind. Wir brauchen also kein verteiltes Verzeichnis. Wir haben jedoch zwei verschiedene Anwendungen entwickelt – oder zumindest sind wir über den Proof of Concept diesbezüglich hinaus – bei denen wir den Tracing-Teil unserer Software auf die Blockchain aufspielen”, erklärte Inkenbrandt.

Obwohl die Blockchain noch nicht vollständig in die reale Fertigung integriert ist, ist sie definitiv bereit, in der Fabrik der Zukunft eine wichtige Rolle einzunehmen.

Versionsmanagement

Ein komplizierter und fehleranfälliger Prozess in der Fertigung ist die Versionierung und Iteration. Selbst innerhalb eines Unternehmens kann es schwierig sein, sicherzustellen, dass die Konstrukteure und die Maschinisten die gleiche Skizze zur Verfügung haben. Erweitern Sie dieses Problem jedoch auf die gesamte Lieferkette, dann wird das Versionsmanagement zu einem zentralen Anwendungsbereich für die Industrie 4.0.

Dies ist ein Kernfokus von Identify3D. “Mit unserer Software können Sie entscheiden, wer das Recht hat, auf Ihre Teile zuzugreifen, auf welcher Maschine sie hergestellt werden müssen, welche Materialien, welche Spezifikationen, welche Arten von Anforderungen, all das können Sie definieren”, erklärt Inkenbrandt. “Dann haben wir noch eine Komponente, die wir Enforce nennen, bei der es sich um die Komponente der Software handelt, die auf die Anlage aufgespielt wird – je nach Maschinenhersteller manchmal über das Steuerungselement, manchmal über die Software, die die Anlage antreibt. Diese Komponente muss an die Anlage angeschlossen werden, um die Einstellungen der Anlage zu lesen und die Produktion zu genehmigen bzw. zu verweigern, wenn die Einstellungen falsch sind.”

The Digital Mirror For All

Viele der als neue oder aufstrebende Industrie-4.0-Technologie bezeichneten Technologien sind gar nicht besonders neu – sie sind seit Jahren bei den größten, leistungsfähigsten Fertigungsunternehmen im Einsatz, sind aber aufgrund der hohen Kosten für kleine und mittlere Hersteller nicht finanzierbar. Es gibt jedoch stetig Fortschritte, da neue Technologien die Kostenschwelle für erweiterte Funktionalitäten senken und es auch kleinen Unternehmen zusehends ermöglichen, an der Entwicklung teilzunehmen. So existierte beispielsweise bereits im letzten Jahrhundert ein vernetztes Regelungs- und Überwachungssystem, das jedoch eine massive Investition und eine mehr oder weniger um das System herum errichtete Fabrik mit einem zentralen Kontrollraum erforderte. Heute ist dieser Grad der Kontrolle im Wesentlichen mit intelligenten, netzwerkverbundenen Plug-and-Play-Sensoren, einer Cloud IoT-Plattform und einem Laptop möglich.

Ich habe Hans Thalbauer über die Anwendbarkeit dieser Technologie in kleineren Unternehmen befragt. “Absolut”, antwortete er. “Erstens kann die Produktivität der Automatisierung gesteigert werden. Ein zweites Beispiel ist das Energiemanagement der Anlagen. Mit der Anbindung an das IoT können Sie schon bei einem einzigen Werk viel erreichen. Selbst wenn es sich nur um ein Lager oder ein Distributionszentrum handelt – Anwendungsbereiche in diesem Fall wären Beleuchtung, Türen, die sich für passierende Gabelstapler öffnen etc. Sie können den Energieverbrauch deutlich senken und gleichzeitig die Produktivität und Effizienz eines Werks steigern. Das gilt für ein einzelnes, durchschnittliches Werk genauso wie für riesige Werke oder große Produktionsunternehmen.”

Um mehr über industrielles IoT und Industrie 4.0 zu erfahren, lesen Sie bitte What is Industry 4.0, Anyway? (englischsprachig).