Der Trend, der PLM und die Fertigungswelt auf den Kopf stellt

Verdi Ogewell |

Siemens‘ große Stände auf der Hannover Messe stellen den derzeit deutlichsten Trend in den Bereichen PLM, Automatisierung und Fertigung zur Schau. Nur wenige Akteure, wenn überhaupt irgendwelche, haben das Projekt der digitalen Industrialisierung so weit vorangetrieben wie der deutsche Industrie-IT-Riese.

Auch unter den Besuchern – über 150.000 Menschen aus weltweit führenden Unternehmen kamen in der Messewoche an den Stand – ist die Neugierde groß: Wie sieht es aus, das digitale Unternehmen, von dem der Konzern behauptet, dass es die Verkörperung der vierten industriellen Revolution, Industry 4.0 und Industrial Internet of Things (IIoT) ist?

Nahtlose Schnittstellen, die nicht nur Produktentwicklung und Fertigung miteinander verbinden, sondern auch eine entscheidende Rolle bei den letztendlichen Produkten in den Händen der Endverbraucher spielen, „stellen die Welt, wie wir sie kennengelernt haben, auf den Kopf”, sagte der Skandinavien-Manager von Siemens, Ulf Troedsson.

Engineering.com traf Troedsson und den Manager der skandinavischen PLM-Abteilung des Unternehmens, Mats Friberg, auf der Hannover Messe.

„Grundsätzlich betrachtet geht es darum, den gesamten Code für den Fertigungsprozess in die Produktionslinie zu übertragen“, sagte Troedsson. „Mit digitalen Zwillingen der Produktionsprozesse können diese virtuell simuliert und optimiert werden, bevor sie in die physische Welt und zu den SPSen übertragen werden. Die virtuelle und die physische Welt nähern sich einander an.“

Diese Tatsache wird wichtiger werden, als man denkt. Das bedeutet, dass man dort, wo es teuer ist, Veränderungen in der physischen Welt vorzunehmen, nicht experimentieren oder optimieren muss.

„Wir können dasselbe stattdessen virtuell zu einem Bruchteil der Kosten realisieren“, sagte Friberg. „Das erweist sich im heutigen harten Wettbewerb als äußerst wertvoll. Und mit MindSphere, dem IoT-Programm als vernetztem, kommunikativem „Dach“ über der gesamten Softwarelösung hinweg, gibt es nur wenige, die wirklich darüber nachdenken müssen, ob es sich lohnt, auf diese Technologe zu setzen. Die Frage ist weniger „ob“ als eher „wann“.“

„Grundsätzlich betrachtet geht es darum, den gesamten Code für den Fertigungsprozess in die Produktionslinie zu übertragen“, sagte Troedsson. „Mit digitalen Zwillingen der Produktionsprozesse können diese virtuell simuliert und optimiert werden, bevor sie in die physische Welt und zu den SPSen übertragen werden. Die virtuelle und die physische Welt nähern sich einander an“, sagt Ulf Troedsson, links.

Der Glaube an die Zukunft ist bei den Siemens-Mitarbeitern in Hannover grenzenlos. Das Unternehmen hat eine Reihe von digitalen Tools zusammengestellt, die den Traum einer vollständig vernetzten Produktentwicklungskette zur Realität machen, und es ist die Software, die dabei den größten Teil der Arbeit macht.

150%-STÜCKLISTE

Sicher, das Unternehmen war softwaretechnisch schon immer gut aufgestellt. In Bezug auf die

Produktentwicklung ist Teamcenter das Rückgrat des Produktdatenmanagements, während das

CAD-Flaggschiff NX der Motor der Produktdefinitionsarbeit ist und die Simulation&Analysis (S&A)-

Plattform Simcenter die virtuelle Umgebung schafft, in der die entsprechenden Tests durchgeführt werden können.

Auch die digitale Fertigungsplattform Tecnomatix, die eng mit Teamcenter verbunden ist, ist keine Neuerung. Mit dieser Lösung wird das Produktionsmanagement geplant, verknüpft und optimiert und im nächsten Schritt der fertige Code an die Werkstatt geschickt, wo die SPSen und alle andere

inaktive Technik (OT) die physische Produktion übernehmen.

All das gibt es schon seit langem. Aber Schritt für Schritt wurden die Fähigkeiten verfeinert. Die „Tentakeln“ der Technologie haben sich bis in die Werkhallen ausgebreitet und die Integration zwischen IT/PLM und OT hat neue Dimensionen angenommen.

„Heute sind wir dabei zu realisieren, was wir 150 Prozent-Stückliste nennen“, sagte Friberg. „Die Informationen fließen nun in einem nahtlosen, automatisierten Datenstrom von der eBOM (Engineering-Stückliste) über die mBOM (Fertigungsstückliste) zur sBOM (Service-Stückliste), einschließlich der BOP (Bill of Process).“

Die Informationen fließen nun in einem nahtlosen, automatisierten Datenstrom von der eBOM (Engineering-Stückliste) über die mBOM (Fertigungsstückliste) zur sBOM (Service-Stückliste), einschließlich der BOP (Bill of Process). „Wir sind die einzigen echten Vorreiter in diesem Bereich”, sagt Mats Friberg, verantwortlich für den PLM-Bereich von Siemens in Skandinavien.

Die Predix-Plattform von GE stellte eine Bedrohung dar

Ob wahr oder nicht, all das klingt beeindruckend. Nicht zuletzt angesichts der Bedeutung von Stücklisten, z.B. in der Automobilindustrie, wo sie als „Brot und Butter“ der Branche bezeichnet werden können: Was das Herz des deutschen Werkhallen-IT-Riesen noch ein wenig schneller schlagen lässt, ist die Software MindSphere.

„Ohne Zweifel, so ist es“, sagte Troedsson. „Sicher, wie die meisten anderen Akteure in der Automatisierungsbranche waren wir ein wenig besorgt, als GE vor vier bis fünf Jahren seine Predix-Plattform auf den Markt brachte. Es fühlte sich wie eine Bedrohung an. Aber wir haben uns zusammengesetzt und investiert. Mit MindSphere haben wir PLM und IoT auf ein neues Level gehoben.“

Was ist MindSphere? Es ist eine offene IoT-Plattform und ein Betriebssystem, so der Skandinavien-Manager von Siemens. Diese Lösung schließt den Kreislauf des Produktlebenszyklus: Die Felddaten des Produkts werden an das PLM-System (in diesem Fall PLM/Teamcenter) zurückgeführt, um die Innovativität basierend auf der Funktionsweise des Produkts in der realen Anwendung weiter zu verbessern.

Mendix schließt das Gelegenheitsfenster von Aras

Er stellte auch fest, dass der Kauf des Low-Code-Entwicklers Mendix vor etwas mehr als einem Jahr den Kunden viel bedeutet hat und die Möglichkeit geschaffen hat, schnell Apps zu erstellen, wodurch die Fähigkeiten im Zusammenhang mit PLM und ERP deutlich verbessert wurden.

„Mendix saugt Informationen aus Unternehmenssystemen wie PLM und ERP ein und kann diese Informationen in einem modernen App-Format darstellen. Unserer Meinung nach schließt sich damit das Fenster für Herausforderer wie Aras, die oft mit einem ganzen System als Lösung für etwas kommen, das womöglich nur ein spezifisches, individuelles Problem darstellt“, sagte Friberg.

Wann wird Edge Computing benötigt? „Nehmen Sie beispielsweise komplexe KI-gesteuerte Maschinenbedienung als typisches Beispiel für Fälle, in denen Edge Computing nützlich sein kann. Sie wollen die gigantischen, anfallendenDatenmengen nicht durch das Ganze stattdessen lokal und direkt innerhalb unserer Lösung verarbeiten“, sagt Mats Friberg. (Bild mit freundlicher Genehmigung von Siemens.)

Edge Computing für schnellere Reaktionszeiten

Eine andere Siemens-Lösung, die bei den Besuchern auf Interesse stieß, war der Bereich Edge Computing.

„Ja, das haben wir hier in Hannover bemerkt“, sagte Friberg. „In unserer Lösung Sinumerik Edge begegnen wir Phänomenen, die eine sofortige, millisekundengenaue Reaktion auf große Datenmengen erfordern. Nehmen Sie beispielsweise komplexe KI-gesteuerte Maschinenbedienung als typisches Beispiel für Fälle, in denen Edge Computing nützlich sein kann. Sie wollen die gigantischen, anfallenden Datenmengen nicht durch die Cloud schicken und dabei eine nachgelagerte Antwortzeit erfordern. Jetzt können wir das Ganze stattdessen lokal und direkt innerhalb unserer Lösung verarbeiten.“

Das Edge-Konzept geht auf die enorme Zunahme des Datenverkehrs zurück. Der Netzwerkriese Cisco prognostizierte einen fast vierfachen Anstieg des Cloud-Verkehrs zwischen 2015 und 2020 – von 3,9 auf 14,1 Zettabyte. Ein Zettabyte entspricht 1 Milliarde Terrabyte.

Vor dem Hintergrund dieser Volumina wird deutlich, dass der Cloud-Verkehr sehr problematisch werden kann, wenn die Infrastruktur mit diesen enormen Mengen an Messdaten von mehreren zehn Millionen angeschlossenen IoT-Geräten belastet wird.

Was also tun? Edge Computing ist die exzentrische Antwort auf diese Problematik. Anstatt diese Datenfluten in die Cloud zu schicken, wurden Lösungen entwickelt, bei denen möglichst viele der großen Datenmengen lokal auf den angeschlossenen Geräten, also so nah wie möglich an der Herkunft der Daten – “am Rande des Netzwerks” (Verweis auf engl. „edge“, zu dt. „Rand“) – verarbeitet werden können. Daher der Begriff „Edge Computing“.

„Edge ist unter anderem ein geschätztes Merkmal der MindSphere-Software und löst datenintensive Anwendungsfälle“, sagte Friberg.

Mit der MindSphere-Lösung kann man ganze Flotten von technischen Einheiten verbinden. Nehmen wir SKF, den Kugellagerriesen, als gutes Beispiel. Die Firma ist ein typisches Beispiel dafür, wie man nach dem “Product-as-a-Service“-Konzept neue Geschäftsmodelle entwickelt. Das Modell von SKF sieht eine Zahlung pro Umdrehung vor in Kombination mit bestimmten anderen Parametern wie frühen Garantien. (Bild mit freundlicher Genehmigung von SKF.)

SKF verbindet Kugellager und berechnet den Servicepreis pro Umdrehung

Vielleicht ist der eigentliche Clou von MindShpere das IoT-Ökosystem an Partnern, das mittels Apps an allen Fronten zusätzliche Fähigkeiten schafft. Siemens steht mit seiner Entwicklungsarbeit dabei nicht allein da. In diesem Ökosystem werden am laufenden Band neue Funktionalitäten, Fähigkeiten und Lösungen – AI, Machine to Machine, APIs, etc. – auf die Plattform gebracht. „The Sky is the Limit“, ist ein Motto, das ich am Siemens-Stand oft gehört habe. Dass MindSphere auch auf Microsofts Azure und Amazon Web Services (AWS) läuft und es sogar Pläne gibt, es auf das chinesische Alibaba auszuweiten, spricht für diese enthusiastischen Einschätzungen.

„Darüber hinaus möchte ich auf den Vorteil hinweisen, dass Siemens als Garant für eine offene Umgebung mit maximaler Konnektivität steht“, sagte Troedsson. „Sie können sich schnell und direkt mit den Geräten verbinden, die Sie nutzen wollen, Daten erfassen und das System automatisch so konfigurieren, dass die Daten entsprechend den gewünschten Strukturen eingegeben werden. Kurz gesagt, die Integrationszeit ist kein Problem, es geht alles sehr schnell.“

Eine weitere Besonderheit ist die Skalierbarkeit. Man kann ganze „Flotten“ von technischen Einheiten miteinander verbinden. Nehmen wir SKF, den Kugellagerriesen, als gutes Beispiel. Das Unternehmen ist ein typisches Beispiel dafür, wie neue Geschäftsmodelle nach dem Product-as-a-Service-Konzept entwickelt werden können.

Das Modell von SKF sieht vor, Servicekosten pro Umdrehung in Kombination mit Parametern wie Betriebszeitgarantien zu berechnen.

„Das Prinzip ist, dass sie für ihre Dienstleistungen Gebühren erheben, anstatt das Eigentum an dem Produkt zu übertragen“, sagte Troedsson. „Der Wert liegt in den Dienstleistungen, für die die Anlagen genutzt werden. Atlas Copco ist ein weiteres gutes Beispiel. Sie berechnen Servicekosten auf ähnliche Weise pro Liter Luft, anstatt Kompressoren zu verkaufen.“

„Das Konzept der digitalen Zwillinge kann eine konstruktive Rolle bei der Optimierung der Fertigungsprozesse spielen“, sagt Ulf Troedsson, CEO von Siemens Skandinavien. „Sie können Ihren Prozess optimieren, indem Sie ihn in den digitalen Zwillingen einer Fertigungslinie simulieren, bevor Sie dann den Code in die SPS-Umgebung „schießen“. Das spart Zeit und Geld und verhindert, dass Sie potenzielle Probleme in der physischen Fertigungsumgebung beheben müssen.“  (Bild mit freundlicher Genehmigung von Siemens.)

Die digitalen Zwillinge spielen eine Schlüsselrolle

Die Reihe an Beispielen für Unternehmen, die begonnen haben, derartige Geschäftsmodelle zu implementieren, kann weitergeführt werden, aber sie alle beruhen auf demselben Product-as-a-Service-Prinzip.

„Die neue Technologie mit Sensoren und Software wie MindSphere in Kombination mit anderen Lösungen wie NX (CAD), Simcenter (CAE), Mentor (PCB & IC-Design) usw. ermöglicht diese neuen Geschäftsmodelle, bei denen digitale Zwillinge eine Schlüsselrolle spielen“, sagte Troedsson.

Warum sind die digitalen Zwillinge in diesem Zusammenhang so wichtig?

„Die digitalen Zwillinge sind die virtuellen Nachbildungen virtueller 3D-Modelle“, erklärte er. „Sie können in Form von Produkten oder zum Beispiel einer Fertigungslinie vorliegen. Die virtuelle Welt kann nun mit der physischen Welt durch Lösungen auf der MindSphere Plattform verbunden werden, wo Echtzeit-Messdaten an die virtuelle Welt zurückgeführt werden können. Dort können Sie die gewonnenen Erfahrungen nutzen und für Innovationen und Verbesserungen verwenden. In anderen Fällen kann man ein System steuern und optimieren oder es für die vorbeugende Instandhaltung nutzen.“

Letzteres ist schließlich eine Funktion, die in diesem Kontext oft betont wird. Die vorbeugende Instandhaltung (engl. Predictive Maintenance, PM) bedeutet, dass Sie z.B. anstatt einem festen Zeitplan zu folgen ein verschlissenes Teil auswechseln, bevor es kaputtgeht, und so einen Produktionsstopp vermeiden.

„Mit PM können Sie die Betriebsbedingungen definitiv optimieren“, sagte Troedsson. „Nehmen Sie Turbinenschaufeln in Gasturbinen als Beispiel dafür, wie diese Art von Wartungsaufwand nicht nur für die vorbeugende Instandhaltung durchgeführt wird, sondern auch für einen Fall, in dem Sie eine Turbine mit nur 95 Prozent anstatt voller Leistung betreiben, weil es aus verschiedenen Gründen womöglich nicht möglich ist, die Rotorschaufel zu dem vorgesehenen Zeitpunkt zu wechseln. Aber natürlich gibt es dabei noch eine Reihe weiterer Parameter, die in das Gesamtbild miteinbezogen werden können, wie z.B. Temperatur, Vibrationen, Leistung, etc.“