Autonomes Fahren: Mit Vollgas in Richtung Stufe 5

Michael Alba |

Autonome Fahrzeuge nutzen eine Vielzahl an verschiedenen Sensoren, um ihre Umgebung zu erfassen und zu verstehen. (Bild mit freundlicher Genehmigung von Siemens.)

Autos werden immer intelligenter. Irgendwann – hoffentlich bald – werden sie in der Lage sein, selbst zu fahren und damit die sagenumwobene fünfte Autonomiestufe, definiert von der Society of Automotive Engineers, zu erreichen. Es bleibt noch viel zu tun in der Zwischenzeit, aber die Ingenieure haben ihre Füße fest auf dem Gaspedal.

Da wären zum Beispiel Xcelerator und Nand Kochhar, Vice President of Automotive and Transportation Industry bei Siemens Digital Industries Software. Bei Xcelerator handelt es sich um den treffenden Markennamen für das Produktentwicklungsportfolio von Siemens. Als echtes Urgestein der Automobilindustrie verbringt Kochhar seit mittlerweile 30 Jahren seine Zeit mit der Entwicklung von Tools, die Ingenieuren helfen, sich immer näher an Stufe 5 anzunähern.

Engineering.com hat sich mit Kochhar zusammengesetzt – natürlich virtuell – um zu erfahren, wie Fahrzeuge autonom werden können und was erforderlich ist, um dieses Ziel zu erreichen.

Engineering.com: Wie ist der aktuelle Entwicklungsstand autonomer Fahrzeuge?

Nand Kochhar: Die SAE [Society of Automotive Engineers] hat 5 Stufen diesbezüglich definiert. Die Stufen 1 und 2 sind bei den meisten Erstausrüstern der Branche bereits etabliert. Stufe 3 ist der derzeit höchste Industriestandard, und viele Unternehmen sind bereits auf Stufe 3 der Autonomie angekommen.

Wir nähern uns in den nächsten Jahren der Stufe 4. Und mehrere Industriezweige, insbesondere die Speditionsbranche, sind bereits dabei, die nächste Stufe der Autonomie zu erreichen. Beispielsweise beginnt Waymo in Texas damit, Fahrzeuge der Stufe 4 zu testen. Ich denke, dass die Technologien schnell heranreifen und wir auf einem guten Weg in Richtung dieser Autonomiestufen sind. Die Speditionsbranche könnte eventuell früher als das Automobil selbst die nächste Stufe der Autonomie erreichen.

SAE-Stufen der Fahrzeugautomatisierung. (Bild mit freundlicher Genehmigung der National Highway Traffic Safety Administration).

Wie modelliert man ein autonomes Fahrzeugsystem?

Man kann da eine Analogie zum menschlichen Körper ziehen, indem man das System in 3 Hauptbestandteile einteilt. Der erste Teil ist die Wahrnehmung. Die Funktion, die das menschliche Auge erfüllt, wird von Kameras, LiDARs und Radargeräten übernommen. Das wäre also der Erfassungsalgorithmus.

Nachdem Sie die Bilder wahrgenommen haben, transferieren Sie sie auf die Ebene der Entscheidungsfindung. Die dafür nötige Zusammenführung der verschiedenen Bilder geschieht auf Mikrochip-Ebene. Vom physischen Standpunkt aus betrachtet, ist das die kleinste Komponente. Aber vom Standpunkt der Entscheidungsfindung aus betrachtet, beginnt man nicht nur mit der Zusammenführung, sondern auch mit der Verarbeitung der Informationen – eine Analogie zur menschlichen Gehirnfunktion.

Die dritte Komponente besteht darin, diese Botschaft an die mechanischen Systeme zurückzusenden, damit sie Maßnahmen ergreifen können. In unserer Analogie zum menschlichen Körper wäre dies die Funktion der Muskeln. Bei einer Notbremsung oder einer adaptiven Geschwindigkeitsregelung beispielsweise müssen Sie diese Nachrichten auf der Grundlage der Wahrnehmungen eingehender Signale an das Bremssystem senden. Das Äquivalent dazu wäre eine Person, die auf die Bremsen tritt. Die Steuerung sendet die Nachricht an das Bremssystem und betätigt die Bremsen, um Ihr Fahrzeug im Notfall zum Stillstand zu bringen.

(Bild mit freundlicher Genehmigung von Siemens.)

Es ist eine ganzheitliche Fahrzeugmodellierung erforderlich, das in der Lage ist, die gesamte Fahrdynamik, die Fahrwerksentwicklung und die Steuerung zu übernehmen. Hier wird eine Kombination all dieser Technologien zum Einsatz kommen, um die beabsichtigte Funktion – in diesem Fall das Anhalten des Fahrzeugs – zu erfüllen.

Wie gehen Entwickler an die Ebene der Entscheidungsfindung heran?

Die Technologie befindet sich in einem ständigen Reifeprozess. Die Entscheidungsebene könnte direkt auf einem Chip oder SoC (System-on-a-Chip) auf Platinenebene stattfinden, anstatt die Daten zur Verarbeitung an eine zentrale Recheneinheit zurückzuschicken und dann die jeweilige Entscheidung zu treffen. Unternehmen verfolgen unterschiedliche Strategien zur Implementierung dieser Entscheidungen. Sie entscheiden selbst, in welchem Umfang sie eher auf die Chip-Ebene oder eher auf die Ebene des Zentralcomputers setzen müssen.

Ich denke, dass die Grenzen der Automobilindustrie sich daher vor allem am Stand des Halbleitermarktes orientieren. Schauen Sie sich einige der fortschrittlicheren Chips an; zum Beispiel NVIDIA-Chips im Vergleich zu den herkömmlichen Technologien. Der Trend geht dahin, dass Entscheidungen, die auf Chip-Ebene getroffen werden, Prozesse beschleunigen und schrittweise das Problem der Latenzzeit lösen werden.

Aber ich denke, das ist der Punkt, an dem sich sich diese beiden Branchen, die Halbleiterindustrie und die Automobilindustrie, berühren. Da wird einem klar, wie sehr das Automobil eigentlich ein Computer auf Rädern ist.

Was tut Siemens für die autonome Fahrzeugtechnik?

Unser Xcelerator-Portfolio ist sehr breit gefächert. Es umfasst eine Vielzahl an Aspekten von Design über Simulation und Entwicklung bis hin zur Fertigung. Siemens ist ein zuverlässiger Partner für alle großen Erstausrüster und namhaften Zulieferer (sog. „Tier Supplier“) in der Automobil- und Transportindustrie. Die Mehrheit der Automobil-Erstausrüster nutzt Artikel aus unserem Portfolio, darunter die „Big Three“ in den USA – Ford, GM und Chrysler arbeiten alle auf verschiedenen Ebenen mit Siemens zusammen.

Im Bereich ADAS (Advanced Driver Assistance System, zu dt.: Fahrassistenzsysteme) umfasst unser Produktangebot das, was wir als unsere “Chip to City”-Initiativen bezeichnen. Wenn Sie sich unseren Produktentwicklungs- und Herstellungszyklus ansehen, haben wir Produkte, die entlang der gesamten Wertschöpfungskette zur Anwendung kommen. Das geht bis hin zum Chipdesign, zur Grafik, zur Simulation und zum Testen, und die höchste Stufe ist das Fahrzeug in der realen Fahrumgebung. Ein gutes Beispiel ist die Erstellung verschiedener Fahrszenarien mit einem Produkt wie dem Prescan360, mit dem Sie auch einen Großteil der Sensorentwicklung durchführen und darüber hinaus lernen können, wie diese Entwicklung mit der Verkehrs- und Stadtinfrastruktur zusammenhängt. Das wäre ein typisches Beispiel für die vertikale Nutzung unseres Portfolios.

Wie groß ist die Kostenbarriere bei autonomen Fahrzeugen?

Die Kosten in der Automobilindustrie sind immer eine Herausforderung. Wenn neue Technologien auf den Markt kommen, sind die Kosten eine Hemmschwelle, bis die Produktionsvolumina wachsen und eine Massenproduktion möglich ist. Dann sinkt die Kostenkurve dank der Skaleneffekte.

Ich betrachte die Technologieinnovationen in der Automobilbranche in einer Weise, die sich nicht fundamental von anderen extrem kostenintensiven Technologien unterscheidet. Nehmen Sie zum Beispiel die heutigen Kosten von LED-Fernsehern, die anfangs zu einem hohen Preis auf den Markt kamen. Oder die damaligen Kosten von Computern. IBM waren damals die Ersten, die die Kosten für solche Computer senkten.

Ich denke, dass die Technologien für alle verschiedenen Ebenen autonomer Fahrzeuge einer sehr ähnlichen Kurvendynamik unterliegen. Die Kosten sind hoch, aber auf der anderen Seite sehen die Verbraucher den Wert dieser Kosten, und die Kurvenverläufe passen sich entsprechend an.

Wie überzeugen Sie die Öffentlichkeit davon, dass autonome Fahrzeuge sicher sind?

Wie Sie wissen, ist die Sicherheit absolut entscheidend. Deshalb sind alle sehr vorsichtig und ziehen es vor, eine Politik der kleinen Schritte zu verfolgen, bevor sie großmündig Triumphe in irgendeinem dieser Bereiche verkünden.

Natürlich gibt es wachsende Akzeptanzschwierigkeiten in Verbindung mit dieser neuen Art des Transports, und das bringt seine ganz eigenen Probleme mit sich. Für uns als Menschen ist es nicht leicht, uns anzupassen. Wie die Einführung jeder anderen neuen Technologie erfolgt auch diese nicht über Nacht, und sie geschieht nicht bei der Gesamtheit der Bevölkerung im gleichen Tempo. Die Berichterstattung in den Medien und die Aufklärung der Verbraucher sind die entscheidenden Faktoren, da diese der Öffentlichkeit einen Eindruck davon vermitteln, wie sich die Branche entwickelt und wie sicher diese Dinge aus der alltäglichen Perspektive der Verbraucher sind.

Regulierung und Zertifizierung werden ebenfalls eine Rolle spielen, um sichere Produkte anbieten zu können. Die NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration) in den USA zum Beispiel. In anderen Ländern verfügen die örtlich zuständigen Stellen über Prüfnormen, anhand derer sie die Fahrzeuge überprüfen – nicht nur, um die Sicherheit zu gewährleisten, sondern auch, um eine Sicherheitsbewertung der Fahrzeuge auf Basis eines Schemas der Sternevergabe vorzunehmen. Soweit ich weiß, gibt es diese Normen für autonome Fahrzeuge noch nicht.

Hier kommen die Regulierungsbehörden ins Spiel. Es gibt einige gemeinsame Initiativen mit Euro NCAP(European New Car Assessment Programme), an denen wir bei Siemens beteiligt sind, die sich mit diesen Testnormen befassen und sogar damit, wie eine zukünftige Regulierung autonomer Fahrzeuge aussehen könnte.

Was sind die größten Herausforderungen für autonome Fahrzeuge?

Präzise Umgebungserfassung unter den Bedingungen von extremem Schnee, Nebel oder Regen – diese Dinge werden immer schwieriger, typischerweise dadurch, dass die entsprechenden Fahrbahnmarkierungen betroffen sind. Verschiedene Radartechnologien sind in der Entwicklung, die diesen Herausforderungen gewachsen sein werden. Auch das Fahren bei Nacht kann eine Herausforderung sein, daher sind verschiedene Infrarot-Technologien in der Entwicklung, die auch solche Szenarien zum Gegenstand haben werden.

(Bild mit freundlicher Genehmigung von Siemens.)

Eine sehr wichtige Sache ist, dass man für das gleiche Sicherheitsgefühl wie bei konventionellem Fahren Millionen von Meilen testfahren muss, um alle möglichen Szenarien zu erproben. Szenarien in Verbindung mit Straßenverhältnissen, anderen Fahrern sowie der Infrastruktur. Es gibt endlose Kombinationen dieser Szenarien, die man in einer physischen Testumgebung wirklich nicht alle reproduzieren kann, und manchmal ist es auch nicht sicher, diese Szenarien zu testen.

All dies resultiert in der Relevanz virtueller Verifizierung und Validierung als Schlüssel zum Takt des Fortschritts beim autonomen Fahren. Einige der Grenzfälle in solchen Szenarien können reproduziert und analysiert werden. Man kann Millionen von Szenarien durchspielen und diese weiterdenken, um eine effektive Entscheidungsfindung zu erhalten. Ich denke, die virtuelle Verifizierung und Validierung ist in diesem Zusammenhang wirklich unverzichtbar.

Nutzen alle Entwickler autonomer Fahrzeuge Simulationstechnologien?

Die Simulationstechnologie wurde hauptsächlich von Unternehmen vorangetrieben, die sich mit der Entwicklung autonomer Fahrzeuge befassen. Unternehmen wie Waymo und Tesla, die in den USA an der Spitze der autonomen Technologie stehen, und viele andere Akteure weltweit, drängen an der Simulationsfront an die Grenzen des Machbaren. Siemens spielt eine wichtige Rolle als Lieferant der notwendigen Tools und unterstützt sie dabei, ihre Ziele zu verwirklichen.

Simulation ist ein großes Thema in unserer Branche. Ich habe 30 Jahre damit verbracht, und es hängt im Prinzip von den Entscheidungsträgern in den Führungsetagen ab. Manche glauben an die Simulation und drängen darauf; wir müssen ihnen nicht einmal etwas verkaufen, weil sie uns das gleiche Narrativ vortragen: „Simulation ist der einzige Weg.“ Andere haben gemischte Gefühle und räsonieren ununterbrochen über den Sinn solcher Investitionen. Es dauert eine Weile, bis man da auf einer Wellenlänge ist.

Dies fügt sich in die größere Geschichte der digitalen Transformation im Allgemeinen ein. Es ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen geschieht. Einige Unternehmen verstehen die Trends und treiben sie dann innerhalb ihrer Organisationen voran. Andere möchten erstmal Erfahrungen sammeln, „herumprobieren“, sozusagen, und im Zuge dessen wollen sie mit Unternehmen wie Siemens zusammenarbeiten und Schritt für Schritt voranschreiten. Wir sind diesbezüglich natürlich bereit, unsere Kunden ihrem jeweiligen Tempo entsprechend zu unterstützen.

Wann wird die Stufe 5 erreicht werden?

Ich würde sagen, wir sind weit davon entfernt, ohne mich da auf ein bestimmtes Jahr festlegen zu wollen. Mit jedem Tag reift die Technologie heran und drängt ein neuer Akteur auf den Markt mit einem eigenen Zeitplan, wann er in der Lage sein wird, dieses Ziel zu erreichen. Aber sowohl als Verbraucher als auch als Ingenieur glaube ich, dass dieses Ziel noch in weiter Ferne liegt.

Wie kommen wir dorthin?

Der wirkliche Schlüssel für uns ist die Prozessrevolution, die im Gange ist. Wir haben vier wichtige digitale Technologiestränge, die diese autonomen Fahrzeuge möglich machen. Einer der wichtigsten digitalen Stränge ist Software- und Systemtechnik, die für einen Großteil der Dinge relevant sind, über die wir gesprochen haben. Dann haben wir beschleunigte Produktentwicklung und die intelligente Fertigung, die im Zusammenhang mit dem End-to-End-Prozess von Konzept bis Produktion relevant sind. Dann gibt es den digitalen Strang IoT und Datenanalyse, der viele dieser geschlossenen Prozesse verbindet und erleichtert, damit die finanziellen Vorteile all der anderen digitalen Technologiestränge an die Endkunden weitergegeben werden können.

Xcelerator ist ein Portfolio von Produkten, Dienstleistungen und der offenen Plattform für die Anwendungsentwicklung. Wir haben einen realitätsnahen, integrierten Produktzyklus zur Verfügung, der die Erstellung hochkomplexer digitale Zwillinge in den Bereichen Design, Fertigung und Service ermöglicht. Siemens verfügt über die real erprobten Erfahrungswerte und die praktischen Möglichkeiten, die für eine Anwendung dieser Technologien nötig sind, sodass wir unseren Kunden aktiv zur Seite stehen können, sich ihren Weg durch diesen Technologiedschungel zu bahnen.

Um mehr über Siemens Xcelerator zu erfahren, besuchen Sie siemens.com/portfolio.